Auf der Suche nach einem einfacheren, bewussteren Leben reiste der Bankerangestellte Lucas Meyer durch das Hohe Atlasgebirge in Marokko. Mehr als 600 Kilometer über Berg und Tal legte er dabei in Begleitung von Eselstute Lucy zurück. Eine Geschichte der Freundschaft, der Selbstfindung und der Nächte unter freiem Himmel irgendwo im Nirgendwo.
Lucas, du bist mit einem Esel durch Marokkos Atlasgebirge gewandert. Warum?
Als mein bester Freund vor einigen Jahren nach Marrakesch ausgewandert ist, habe ich ihn einige Male besucht. Die Menschen, die Kultur, die Einfachheit des Lebens haben mir von Anfang an sehr gefallen. Daher habe ich Ende 2018 meinen Bürojob in Zürich gekündigt und bin, auf der Suche nach einem einfacheren, bewussteren Leben, mehr oder weniger blindlings nach Marokko gereist. Dort habe ich einige Monate lang auf einem Permakulturhof südwestlich von Marrakesch Freiwilligenarbeit geleistet. Im Sommer wurde es mir in der Region Marrakesch dann zu heiss und ich bin mit einer Eselstute namens Lucy durch das Hohe Atlasgebirge gewandert.
Wo hast du Lucy aufgetrieben?
Lucy war eine von zwei Eselstuten auf dem Permakulturhof. Sie ist eine junge Stute, die auf dem Hof kaum für Arbeiten oder andere Aktivitäten benötigt wurde. Daher habe ich einen Monat lang mit ihr trainiert, bevor wir uns auf die Reise machten.
Lucas und Lucy, ein Dreamteam?
Tatsächlich waren Lucy und ich ein Team. Wir haben uns jederzeit gegenseitig unterstützt und aufeinander achtgegeben. Ich schaute, dass sie immer Futter hat, sich ausruhen kann und sich generell wohl fühlt. Und sie half mir, das Gepäck zu tragen – aber vor allem auch in schwierigen Situationen die Ruhe zu bewahren. Denn Lucy macht sich nie Sorgen und denkt auch nicht über Probleme nach. Sie lebt nur im Moment.
Wie lief dein typischer Tag ab?
Nach dem Aufstehen kümmerte ich mich immer zuerst um Lucy. Sie bekam Stroh, Gerstenkörner und einen Eimer Trinkwasser. Erst als Lucy versorgt war, kümmerte ich mich um meine Anliegen. Frühstücken, Zähneputzen und mich für die Abreise fertigmachen. Danach wurde Lucy gesattelt und mit Gepäck beladen.
Wir wanderten durch die wunderschöne Berglandschaft, trafen viele Menschen und wurden vielerorts zum Tee oder Essen eingeladen. Wir machten Mittagsschlaf im Schatten eines Olivenbaumes und beobachteten den Hirten, der mit seinen Schafen durch die Felder zog. Gegen Abend kamen wir in ein Dorf und übernachteten unter freiem Himmel auf dem Dorfplatz.
Wie bist du damit umgegangen, die Hauptattraktion der kleinen Dörfer zu sein?
Zu Beginn war ich sehr überrascht. Die Aufmerksamkeit, die Lucy und ich auf uns zogen, war enorm. In vielen Dörfern wurden wir von Menschenmassen und neugierigen Blicken umkreist. Was macht denn dieser Fremde mit einem Esel in unserem Dorf? Diese Aufmerksamkeit ist einerseits schön, andererseits kann sie auch sehr anstrengend und ermüdend werden. Es gab Tage, an denen ich dreimal zum Frühstück eingeladen wurde!
Wo hast du Unterschlupf gefunden?
Entweder schlief ich unter freiem Himmel irgendwo im Nirgendwo oder doch auf dem Dorfplatz in einem der vielen kleinen Dörfer. Unter Obhut der Dorfgemeinschaft fühlte ich mich auch jeweils am sichersten.
In den Dörfern gab es weniger Skorpione, um die ich mich sorgen musste. Denn man sagte mir, dass Hühner Skorpioneier essen würden. Ich schlief auch in Herbergen, den sogenannten Gites. Dies auch, um die lokale Gemeinschaft zu unterstützen.
Und wie sah es mit der Verpflegung aus?
Einmal habe ich mich drei Tage lang nur von Brot, Olivenöl und Tee ernährt! Dies war meine Hauptnahrung, wenn ich eingeladen wurde. Es gab aber auch Tajine, Omelett oder Gerstensuppe.
Die Küche war simpel, aber stets frisch und gesund. Mein Lieblingsgericht sind die marokkanischen Crêpes Namens Msemmen, welche mit Honig serviert werden.
Sprichst du jetzt fliessend Darija (den marokkanisch-arabischen Dialekt)?
Ich konnte in dem Jahr in Marokko etwas Darija lernen. So konnte ich mich mit fast allen verständigen. Auch Französisch hat mir auf meiner Reise sehr geholfen. In der Berbersprache, Tamazigh, welche die meistverbreitete Sprache im Atlasgebirge ist, konnte ich leider nur ein paar Wörter auflesen.
Du hast dich bestimmt mit vielen Leuten ausgetauscht. Welche Geschichten sind geblieben?
Geblieben ist mir die Begegnung mit Sibrahim, das ist die Kurzform für Sidi Ibrahim, Heiliger Ibrahim. Er ist Besitzer einer kleinen Gite im Dorf Timichi, in welcher ich das grosse islamische Opferfest Aid el Kabir gefeiert habe. Nach dem Fest war ich mehrere Tage krank und konnte nicht weiterreisen. Mit Sibrahim verbrachte ich viele Stunden auf der Treppe vor seiner Gite, von der aus wir eine schöne Sicht aufs Dorfleben hatten. Er erzählte mir von seinem Leben und vom Leben im Dorf. Doch wir verbrachten auch viel Zeit schweigend nebeneinander und schauten in die Bergwelt hinaus. Diese Zufriedenheit und Ruhe von Sibrahim ist mir sehr geblieben.
Wie ist die marokkanische Bergwelt?
Im Atlas findet man nur sehr wenige Regionen mit Bäumen. Es ist generell trockener und steiniger. Die Gesteinsfarbe ist anders als in den Schweizer Alpen. Die Farbe geht von roten, über graue bis hin zu gelben Tönen. Zudem hat es im Atlas meiner Meinung nach vielmehr Dörfer als in den Alpen. Die Dörfer sind aber kleiner, bestehen nur aus ca. 10 Familien. Und sie befinden sich immer bei einer Wasserquelle.
Was war das Highlight deiner Reise?
Eines meiner Highlights war sicherlich die Besteigung des Jbel Toubkal. Der Gedanke daran, so weit gereist zu sein, ein ganzes Land über den Land- oder Schiffsweg bis zum höchsten Berg Nordafrikas durchquert zu haben… Und dann gab es natürlich viele kleine Highlights auf meiner Reise. Dies waren aber mehr die Momente des Glücksgefühls und der ultimativen Freiheit, die Lucy und ich hatten.
Und deine schlechteste Erfahrung?
Natürlich gab es auch Momente der Einsamkeit oder Unsicherheit. Zum Beispiel als ich auf dem Jbel Yagour den Weg aus den Augen verloren habe und irgendwo durchs Gebirge umhergeirrt bin. Oder als ich krank tagelang im Bett lag.
Welchen Eindruck haben die Marokkaner bei dir hinterlassen?
Die Gastfreundschaft der Marokkaner ist mir stark in Erinnerung geblieben und dient mir auch heute noch als Vorbild. In Marokko ist es selbstverständlich, sich um seine Mitmenschen aber auch um einen fremden Menschen zu kümmern. Zudem leben viele Marokkaner sehr einfach und auch sehr im Moment. Es gibt für sie keinen Grund, sich um die Zukunft zu sorgen. Denn die Zukunft ist von Allah vorherbestimmt und daher bereits gegeben. Was zählt ist das Hier und Jetzt. Diese Einstellung bekommt man in Marokko Tag für Tag zu spüren.
Wie hat dich diese Erfahrung verändert?
Meine Reise und die Zeit in Marokko haben mir geholfen, mein Selbstvertrauen zu steigern und dem Leben voll und ganz zu vertrauen. Ich mache mir viel weniger Sorgen um die Zukunft oder um sonst irgendwas im Leben. Ich weiss, dass ich glücklich sein werde und meinen Weg finde, wenn ich immer ehrlich zu Anderen und zu mir selbst bin.
Hast du neue Projekte?
Ich lasse mich weiterhin vom Leben treiben und schaue, was auf mich zukommt. Zurzeit lebe ich in einer Wohngemeinschaft im Zürcher Oberland. Ich verbringe viel Zeit in der Natur und in unserem grossen Garten, den wir nach den Regeln der Permakultur bewirtschaften. Ich setze mich für mehr Einfachheit und Nachhaltigkeit in unserer Gesellschaft ein. Mein Wunsch ist es, dass die Menschen nicht mehr irgendeiner Karriere hinterherjagen und mehr zu sich selbst finden. Über meine aktuellen Projekte schreibe ich auch auf meiner Webseite.
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«Es gab Tage, an denen ich dreimal zum Frühstück eingeladen wurde!». Wer die Gastfreundschaft der Marokkaner kennt, muss spätestens hier schmunzeln. Inspirierender Beitrag, merci dafür!
Merci dir, liebe Sarah.
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